Vorwort

Zur Person und Arbeit mit Russischen Liedern

•  Geboren 1948 als Tochter einer russischen Mutter aus Kiev und einem deutsch-russischen Vater aus Odessa, die vor dem Stalinistischen Terror flüchteten. Mutter und beide Großmütter sind Pianistinnen, der Großvater mütterlicherseits Solist an der Staatl. Oper in Kiev (bis zu seiner Ermordung durch den KGB, damals NKWD, in 1938).


•  Aufgewachsen bin ich in den USA . (So trage ich den Osten und den Westen im Herzen!) Nach einer glücklichen Kindheit in der Russisch-Ukrainischen Kolonie in Buffalo, N.Y. und Stratford, Connecticut - es wurde viel gefeiert, gesungen und musiziert - Studium am Bryn Mawr College, an der School of Music in Bloomington, Indiana und an der Hochschule der Künste in Berlin. Seit 1974 Lehrerin an der Musikschule Zehlendorf (Klavier und russischer Gesang).

•  In den 70-er u. 80-er Jahren vielfältige Erfahrung auf dem Gebiet der internationalen Folklore (heute "Weltmusik" genannt) als Dirigentin, Musik-Arrangeurin, Instrumentalistin, Sängerin u. Tänzerin in Projekten mit Türkischen, Persischen, Armenischen, Kurdischen, Aserbajdzhanischen und Deutschen Musikern.
 
•  1984 gründete ich das Ensemble Perepjolotschki (Frauen singen und spielen russische Dorfmusik) als Ausdruck leidenschaftlicher Liebe zur Russischen Heimat meiner Eltern und einer tiefen seelischen Verbundenheit mit den russischen Menschen. Den Ruf meiner russischen Vorfahren folgend (ich glaube an ein genetisches Gedächtnis!) zu den eigenen Wurzeln zurückgekehrt, habe ich mein Lebensziel gefunden: den Gesang und die Weisheit russischer Bäuerinnen zu bewahren und weiterzugeben.

•  Seit Jahrhunderten sind die Frauen "Mütterchen Russlands" die Hüterinnen des Volkslieds. Im russischen Dorf wurden alle große Ereignisse des Lebens - Geburt, Hochzeit, Tod - durch Lieder begleitet. In der Poesie dieser Lieder liegen uralte Erfahrungen über das Leben, die Arbeit und die Liebe verborgen, universelle ethische Werte jenseits aller herrschenden Ideologien, die genau wie die Volkslieder in der heutigen Zeit vom Aussterben bedroht sind: menschliche Güte, die Achtung des Lebens und der Würde des Menschen, die Bewahrung der Erde und die Erziehung der kommenden Generationen.

•  Wenn ich für die Programme des Frauen-Ensembles "Perepjolotschki", für meine Kurse und Wochenend-Seminare russische Volks- u. Liturgische Gesänge transkribiere oder behutsam bearbeite, habe ich im Lied  "Mütterchen Russlands"  die verlorene Heimat wiedergefunden, und eine Möglichkeit zur Völkerverständigung beizutragen, in dem für Menschen hier in Deutschland das, was man "Russische Seele" nennt, durch Musik erlebbar wird.
Und wenn sich - über alle Zeit- und Raumgrenzen hinweg - die Herzen durch Gesang öffnen, dann spüren wir, dass wir alle Kinder derselben Mutter Erde sind, "Matj ssyra sjemlja" ("MutterFeuchteErde") - uns allen lebenspendende und heilende Kraft.

Irina Brockert-Aristova
Berlin, 2.4.01

Ein wenig aus der Geschichte, musikalische Wurzeln

•  Meine Mutter, Enkelin des Barons Ludwig von Nolcken, wurde 1922 in Kiew geboren. Ihr Großvater väterlicherseits – Andrej Aleksandrowitsch Aristov – war Militärkommandant der Stadt Kiew. Sein Sohn Andrej Andrejewitsch, der Vater meiner Mutter, sang als Solist im Staatlichen Operntheater in Kiew. Meine Mutter selbst, sowie ihre Mutter, waren Pianistinnen. Die Vorfahren meines Vaters – die Brockerts – waren Russland-Deutsche, die im 19. Jahrhundert aus Ostpreussen nach Odessa auswandert waren.

•  Nach der Verhaftung ihrer Väter (1938 und 1941) flohen meine Eltern vor dem Terror unter Stalin. Ich wurde in Deutschland geboren, in Bayreuth. Als ich drei Jahre alt war, emigrierten meine Eltern und ich in die USA, wo ich 20 Jahre lang gelebt habe. Die ersten 10 Jahre wohnten wir in Buffalo, N.Y. Der Winter war dort sehr schneereich – wie in Russland. Auch gab es in Buffalo eine große russische und ukrainische Diaspora.

•  Zu Hause haben wir Russisch gesprochen, aber, da meine Mutter viele ukrainische Klavierschüler hatte, war uns Kindern auch die ukrainische Sprache vertraut.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Obwohl ich die deutsche Sprache noch vor der englischen gelernt habe, wurde bei uns zu Hause – nicht zuletzt aufgrund der Repression gegen die deutsche Minderheit in der Sowjetunion – kaum Deutsch gesprochen.

•  Als Tochter eines Opernsolisten lud meine Mutter viele Sänger zu uns nach Hause ein, die sie am Klavier begleitete, so dass mir seit frühester Kindheit die russische Opernliteratur sowie Romanzen und Volkslieder in Bearbeitungen vertraut waren. Eine Zeitlang war meine Mutter Klavierbegleiterin des ukrainischen Männerquartetts Niagara Troubadours, mit dem sie auch Tourneen machte. Die Proben fanden bei uns zu Hause statt. Meine Mutter war auch meine erste – und einzige – Klavierlehrerin bis zur Hochschulreife.

•  Unsere Familie nahm aktiv am russisch-orthodoxen Gemeindeleben teil. Wir Kinder besuchten die Sonntagsschule der Gemeindeschule, wo wir die Geschichte und Kultur Russlands vor der Revolution lernten, in Sommerlager der russischen Pfadfinder fuhren, bei Aufführungen sangen und tanzten. So ließen wir das verlorene Russland wieder aufleben.

•  Nach Russland selbst fuhr ich zum ersten Mal 1969 mit einer großen Gruppe Studenten der Slawistik-Fakultät in Bloomington, Indiana, wo ich damals studiert habe. Wir haben in den sechs Wochen sehr viel gesehen und erlebt – St. Petersburg, den Goldenen Ring, Kiew, Flüsse vom Dampfer aus ... Obwohl ich damals wohl viel „amerikanischer“ war als heute, wurde ich überall von den russischen Menschen als eine der „ihren“ empfangen. Bis heute ist jede Fahrt für mich wie eine Reise „nach Hause“.

Lehrjahre, Folklore Studien

•  Schon während meines Musik- und Slawistikstudiums beschäftigte ich mich mit russischer Folklore, zunächst in Bryn Mawr bei Professor Alfred J. Swan und später in Bloomington, wo der Folklorist Professor Felix J. Oinas lehrte. Parallel zum Studium entdeckte ich meine große Liebe zum Volkstanz, eine Leidenschaft, die mir bis heute geblieben ist. In Philadelphia und in Bloomington lernte ich Tänze aus vielen Ländern – Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Türkei ..., u.a. bei hervorragenden Lehrern wie Dick Crum. In den 70er Jahren in Berlin entstanden Kontakte zu deutschen, t ürkischen und iranischen Künstlern. Daraus entwickelte sich eine langjährige intensive Zusammenarbeit, in der ich einen Schatz an Erfahrungen als Tänzerin, Instrumentalistin (am Klavier, Akkordeon, Xylophon und Hackbrett), Sängerin, Chordirigentin und Musikbearbeiterin sammeln konnte.

•  1984 reifte in mir der Entschluss, musikalisch zu meinen eigenen Wurzeln zurückzufinden. An meinem Geburtstag lud ich Frauen aus meinem Bekanntenkreis ein, die wie ich russische Lieder liebten. So wurde dieses „Geburtstagsgeschenk“ zur Geburtsstunde des Ensembles „Perepjolotschki“. Da ich zu der Zeit schon viele Schallplatten und Liederbücher aus der Sowjetunion gesammelt hatte, fingen wir an mit Liedern vom Piatnizkij Chor, dem Nord-Russischen Volkschor, der Don Kosaken, der Fjodorow Schwestern ... Auf der Suche nach neuen Liedern in Phonoarchiven ethnologischer Sammlungen merkte ich sofort, dass die authentischen Gesänge der meist alten Frauen mich viel tiefer und nachhaltiger berührten als die offizielle „sowjetische Folklore“. Immer mehr wollte ich die archaischen Lieder der Bäuerinnen nach uralter traditioneller Art singen. Das hat nicht allen Sängerinnen gefallen, deshalb nehme ich immer noch die schönsten arrangierten Lieder ins Repertoire, die ich versuche, möglichst behutsam für das Ensemble zu bearbeiten. Das Singen in authentischer Manier erfordert vom Interpreten eine bewusste innere Arbeit – er muss sich öffnen; erst dann wird sich diese Musik in ihrer Tiefe offenbaren. Da in der russischen dörflichen Musiktradition der Gesang und der Tanz eine unzertrennliche Einheit bilden, war es für mich ein großes Glück, in Hennie Konings einen Tanzlehrer zu finden, der sowohl mit choreografierten Volkstänzen als auch mit authentischen Bauern- und Kosakentänzen vertraut ist.

•  In den 80er Jahren begann ich öfter nach Russland, der Heimat meiner Eltern, zu reisen. Ich hatte einen amerikanischen Pass, lebte in West-Berlin, wo ich einen iranischen Chor leitete, und interessierte mich für die traditionelle dörfliche Russische Kultur. Um nicht allzu sehr das Interesse des Geheimdienstes KGB zu wecken, reiste ich zunächst lieber in Gruppen. 1995 gelang es mir, eine Einladung für die „Perepjolotschki“ zum VI. Internationalen Folklore Festival in Archangelsk zu bekommen. Das Festival-Kommittee wollte, dass wir deutsche Lieder singen, und es war recht kompliziert zu erklären, warum wir (Frauen aus Deutschland) russische Lieder in russischer Sprache singen! Auf dem Festival sangen Bäuerinnen aus entlegenen Dörfern; dort habe ich alle „meine“ russischen Großmütter kannengelernt, die mich wie ihre eigene Enkelin ins Herz schlossen.

•  Zweimal nahm ich die „Perepjolotschki“ mit nach Amerika: Zum 80. Geburtstag meines Vaters im Jahr 2000 und 2002 zum 80. Geburtstag meiner Mutter, verbunden mit einer kleinen Tournee nach Kanada.

Kostüme

•  So wie sie seit Jahrhunderten ihre Lieder vor dem Aussterben bewahrten und an die nächste Generation weiterreichten, haben die russischen Bäuerinnen einen weiteren Schatz fuer die Nachkommen gehütet – ihre traditionellen Trachten. Vielfalt und Reichtum, besonders in der Festtagskleidung, zeugen von handwerklichem Geschick und grosser schöpferischer Fantasie, wo jede Verzierung, ob Stickerei, Glasperle oder Posament, eine tiefere Bedeutung hat. So sind die Trachten eine visuelle Widerspiegelung des bäurlichen Weltbilds und Glaubens, und lassen den Geist der Bauerngesaenge sichtbar werden. Da das glaubwuerdige Singen von Liedern einer fremden Kultur ein „in die Haut eines anderen Menschen schlüpfen“ erfordert, kann das Einkleiden diese Transformation unterstützen, aber nur, wenn es zu einem bewussten Ritual wird, und die Tracht möglichst liebevoll und detailgetreu genäht wurde. Das "Einkleiden" der Perepjolotschki wurde mir also zur Herzenssache. Dabei war es mir sehr wichtig, auf authentische Quellen zurückzugreifen. Ich studierte Trachtenbücher und Museumsexponate, und zum Folklore-Festival wurden die ersten Kostüme (genannt „Parotschki“) nach Originalmustern der Region Archangelsk fertig. Mit diesen aus indischer Seide genähten Trachten gab es eine verblüffende Begebenheit. Auf dem Festival waren Sängerinnen aus den nordrussischen Dörfern Leschukonskoje und Keba; sie hatten Trachten aus denselben Stoffen, denn Waren aus China und Indien waren in der Handelsstadt Archangelsk keine Seltenheit. Die Frauen aus Leschukonskoje glaubten ihren Augen nicht: „Sie tragen unsere Kleider und singen unsere Lieder!“

•  Dort auf dem Festival sah ich Trachten aus den verschiedensten Regionen Russlands. Einige von ihnen waren über hundert Jahre alt – zum Anfassen nah! Ich konnte es kaum glauben, wie gut erhalten sie waren – und wie schön in ihrer Vielfalt. So fasste ich den Entschluss, eine ganze „Kollektion“ der schönsten Trachten Russlands nachnähen zu lassen – egal, was es koste! Aber zuerst musste ich die richtige Näherin finden, dieses grosse Werk zu vollbringen. Es war eine glückliche Fügung, dass ich Svetlana Nozikova, Mitarbeiterin des Museums für Heimatkunde und Spezialistin für Textilrestauration, kennenlernte. Mit ihren „goldenen Händen“ konnte das Projekt verwirklicht werden. Bis heute sind Trachten aus Woronesch, Orjol, Rjasan', Kaluga und Moskau und von den Altgläubigen von hinter dem Baikalsee entstanden (www.Perepjolotschki.de).

Geistliche Musik

•  In Stratford, Connecticut, wo wir seit 1961 wohnten, war mein Vater Vorsitzender (Starosta) der russisch-orthodoxen Gemeinde. Meine Mutter sang im Chor, und immer wenn ich in Stratford bin, singen wir zusammen in der Kirche. Eigentlich ist meine Verbindung zur orthodoxen Musik eine genetische, denn die Vorfahren meiner Mutter, die Aristovs, kamen im 10. Jahrhundert aus Griechenland, um Russland zum Christentum zu bekehren. Seit 1998 unterrichte ich russisch-orthodoxe Gesänge aus 8 Jahrhunderten in der Osterkirche Wedding und gestalte mit dem aus dem Kurs hervorgegangenen Ensemble Capella Russica Gottesdienste in Berliner Kirchen (www.CapellaRussica.de). Im Sommer 2002 studierte ich am Chorleiter-Seminar der Schule für Liturgische Musik in Jordanville, N.Y., USA.

•  Kurz danach entdeckte ich die amerikanische Tradition des Sacred Harp Gesangs nach shape notes, die, wie auch die russisch-orthodoxe, kraftvoll aus unerschöpflichen seelischen Tiefen emposchwingend in den Himmel steigt und den Singenden den „Himmel auf Erden“ finden lässt. 2004 gründete ich eine Singschule für amerikanische geistliche Gesänge und Volkslieder ( www.BerlinShapeNote.de ). Mit meinem Vokalensemble Far Afield und den Bluegrass Bands Ken & Tucky und Bluegrass Mountain habe ich die Möglichkeit diese Tradition lebendig zu halten.

Ein Rätsel: Als wer fühle ich mich?

•  Diese Frage kann ich nicht beantworten. Ich fühle mich geteilt, nicht nur in zwei, sondern sogar in drei Teile. In Amerika bin ich zuhause, aber wenn ich nach Russland fahre, kommt es mir auch vor, als würde ich „nach Hause“ fahren. Ich kann mich nicht entscheiden, wo meine Heimat ist – im Osten oder im Westen: beides trage ich im Herzen! Und Berlin – ist das der „Wartesaal“ am Umsteigepunkt, oder meine „Brücke über die Beringstrasse“? So fehlt immer ein Teil von mir: im „alten“ Europa fehlt mir meine liebe Familie, mit der ich eine glückliche Kindheit und Jugend in Amerika geteilt habe; in der „neuen“ Welt habe ich Sehnsucht nach dem verlorenen Russland, nach meinen Verwandten, die dort leben. Es ist die traditionelle Musik, die russische und die amerikanische, die mich „ganz“ werden lässt. Sie ist mein Lebenselixir und Lebensziel, meine innere Heimat. In ihr ist das Gedächtnis vergangener Generationen gespeichert. Wenn ich die archaischen Lieder singe, werde ich eins mit allen meinen Vorfahren, die je auf dieser Erde gelebt haben. Das, was sich geographisch nicht vereinen lässt, gelingt mir durchs Singen: - meine verlorenen, verschütteten Teile, mein nichtgelebtes Leben zu finden, meine Heimat. Das ist, glaube ich, die tiefgreifendste Eigenschaft des Volksgesangs überhaupt: in jedem Menschen die Stelle zu öffnen, wo wir alle gleich sind – nicht Russen, nicht Amerikaner – sondern einfach Menschen. Jede traditionelle Musik vermag das, wenn sie frei von Kitsch, von Stilisierung bleibt – authentisch bleibt.